Beim Reden betrachtete er aufmerksam Kirstens Gesicht. Am Anfang wollte er daraus ihre Reaktionen ablesen. Dann aber verlor er sich darin. Weil sie alle Haare straff nach hinten gezogen hatte, lenkte nichts von ihrem offenen Gesicht ab. Es wirkte so klar und hell, dass Christian einen Moment dachte, dass eine Stimme wie die von Christine gut zu ihr passen könnte. Vielleicht taten die schmalen Augenbrauen und die Lachfalten ihr Übriges für diesen Eindruck. Ein kleines Grübchen links unter dem Mund war nur zu sehen, wenn sie lächelte. Jäh wurde Christian aus seinen Beobachtungen gerissen. Ein altes Paar schlurfte dicht an ihm vorbei zum Nebentisch. Christian musste zur Seite rutschen, damit seine langen Beine nicht zum Hindernis würden. „Setz du dir mal schon hin, ick komm´ gleich“, sagte die Frau zum Mann.
Der Mann zog den Holzstuhl ein Stück vom Tisch weg, ließ sich nieder fallen, so als wäre er völlig erschöpft. Nur zwei, drei Schritte entfernte sich die Frau mit dem Einkaufswagen, dann drehte sie sich um. „Rück mal die Tasche von der Tür weg. Da haut mir sonst jemand dajejen und dann jeht allet kaputt.“
Beim Reden betrachtete er aufmerksam Kirstens Gesicht. Am Anfang wollte er daraus ihre Reaktionen ablesen. Dann aber verlor er sich darin. Weil sie alle Haare straff nach hinten gezogen hatte, lenkte nichts von ihrem offenen Gesicht ab. Es wirkte so klar und hell, dass Christian einen Moment dachte, dass eine Stimme wie die von Christine gut zu ihr passen könnte. Vielleicht taten die schmalen Augenbrauen und die Lachfalten ihr Übriges für diesen Eindruck. Ein kleines Grübchen links unter dem Mund war nur zu sehen, wenn sie lächelte. Jäh wurde Christian aus seinen Beobachtungen gerissen. Ein altes Paar schlurfte dicht an ihm vorbei zum Nebentisch. Christian musste zur Seite rutschen, damit seine langen Beine nicht zum Hindernis würden. „Setz du dir mal schon hin, ick komm´ gleich“, sagte die Frau zum Mann.
„Ja.“
Der Mann zog den Holzstuhl ein Stück vom Tisch weg, ließ sich nieder fallen, so als wäre er völlig erschöpft. Nur zwei, drei Schritte entfernte sich die Frau mit dem Einkaufswagen, dann drehte sie sich um. „Rück mal die Tasche von der Tür weg. Da haut mir sonst jemand dajejen und dann jeht allet kaputt.“
„Ja.“
Der Mann wand sich nach links, griff zur Rolltasche, zog sie wenige Zentimeter zu sich heran. Es blieb eher nur eine Geste dessen, was er tun sollte. Dann legte er seine Hände auf den Tisch, schnaufte, räuspert sich und schloss für einen Moment die Augen. Wohl weit über siebzig, glattrasiert, bläuliche Gesichtsfarbe, saß er schwer atmend am Nebentisch. Christian schaute kurz nach unten. Der Mann trug eine sehr kurze, hellbraune Cordhose, ehemals pinkfarbene Socken schauten darunter hervor. Seine gestreifte Strickjacke war an den Ärmeln ausgebeult und fadenscheinig. Plötzlich öffnete der Mann seine Augen, zog mehrmals am Griff der Rolltasche, so als hätte er den Auftrag gerade erneut vernommen. Das Gefährt rührte sich kaum, die Bewegung brachte kein Resultat.
Endlich konnte Christian seinen Blick vom Nachbartisch lösen und schaute wieder zu Kirsten. Er begriff, während er redete, dass er bisher mit niemandem so offen gesprochen hatte. Annika sei eine wunderbare Frau, doch sie wolle, dass er möglichst häufig in ihrer Nähe sei. Entweder mache sie ständig Vorschläge für gemeinsame Unternehmungen oder sie läge vor dem Fernseher stundenlang auf seinem Schoß und wolle ununterbrochen gekrault werden. Er fühle sich dadurch sehr angestrengt. Im ersten Moment war es ihm peinlich als er sogar davon berichtete, welches ganz biologische Problem er mit Annika habe. Er suchte nach umschreibenden Wörtern und begann weit auszuholen. Dabei sah er aus den Augenwinkeln, wie sich der Mann von schräg gegenüber zurücklehnte, geräuschvoll Luft abließ und seine Augen wieder zufielen. Die Nähe des Mannes störte Christian. Ob er eingeschlafen ist? überlegte er. Doch im nächsten Moment schlug der Mann die Lider auf, schaute kurz auf den roten Rollkoffer neben sich, zog erneut ergebnislos am Griff und schloss die Augen. Christian sprach weiter, jedoch deutlich leiser, und kam zu einer Begründung, die er für sich in Anspruch nahm. „Ich bin vermutlich ein übersteigerter Geruchsmensch. Manchmal erinnere ich mich an Gerüche aus der Vergangenheit, das reicht bis in die Kindheit hinein. Ich weiß noch genau, wie es stank, als wir beim Pilze-Sammeln ein totes Wildschwein im Wald gefunden hatten, oder der Keller und der Dachboden bei uns zu Hause hatten im Sommer einen ganz speziellen Geruch. Na und Gittis Duft hat sich mir regelrecht eingebrannt.“ Kurz schaute Christian nach links und sah, wie der Mann sich gerade überrascht umblickte. Ob er etwas gehört hatte? Es schien als wundere sich der Mann über den Ort seines Aufenthaltes. Nun setzte er seine dunkelblaue Schirmmütze ab und legte sie wie ein Präsent verkehrt herum auf den Tisch. Ihr Innenrand war fettig und lobte ihr hohes Alter. Beide Hände hielten den Schatz. Wieder schloss der Mann seine Augen und Christian erzählte erneut von Gittis Duft, von dem er heute noch manchmal träumen würde. Dann endlich war er bei den eigentlichen „Schwierigkeiten“ mit Annika angekommen. Kirsten hatte aufgehört, ständig zu lächeln. Sie brachte, als Christian eine kleine Denkpause machte, ohne Umschweife ein Resümee in einem Satz zusammen. „Ich sag mal so, wenn die Chemie nicht stimmt und euer Geruch nicht zusammenpasst, ist eine Beziehung aus meiner Sicht ein großes Risiko. Das spürst du ja an deiner Christine.“
Christian richtete sich auf: „Das ist nicht meine Christine und schon gar nicht meine Beziehung. Ja, ich bin da sicherlich in ein Abenteuer hineingeraten und vielleicht war das Ganze sogar sehr unfair Annika gegenüber. Aber Christine hat nun mal diese Augen, diese Stimme, ich war einfach wie hypnotisiert.“
„Okay, okay, ich hab´s ja verstanden. Aber zumindest scheinst du noch ein wenig in ihrem Bann zu stehen.“ Christian machte ein undefinierbares Geräusch. „Was aber deine Annika betrifft- darf ich das so sagen?“ Christian grunzte leise. „Also mit deiner Annika hattest du vielleicht nur einen ungünstigen Moment getroffen. Wenn du Glück hast, hattet ihr einfach nur ein wenig Pech.“ Christian zog seine Stirn in Falten. „Ich meine“ versuchte sie zu erklären, „dass es mit den Tagen zusammenhängen könnte an dem ihr euch nahegekommen seid. Ich sag mal so, du bist ja auch keine Maschine, Menschen riechen nicht jeden Tag gleich. Das solltest du eigentlich wissen.“ Leise vor sich hinredend kam jemand von hinten angelaufen. Christian fühlte sich erneut gestört. Weder wollte er, dass man seine Worte hörte noch konnte er sich richtig konzentrieren. Er drehte sich um und sah die Frau mit ihrem Einkauf zurückkehren. Sie blickte sich mehrfach um, so als müsse sie sich vergewissern, den richtigen Weg genommen zu haben. Klein, mit grau-strubbligen Haaren trug sie einen braunen Parker. Den Einkaufswagen nutzte sie wie einen Rollator. Erschrocken blickte der Mann auf, als sie neben ihm stand.
„Bist ja schon wieder da, mein Schatz.“
„Ja.“
„Ging ja schnell.“
„Ja. Sind ja kaum Leute hier. Is allet leer hier. Kooft keener ein.“
„Soll ick dir helfen?“ Der Mann griff nach rechts und zog an der Rolltasche. Dann versuchte er sie zu öffnen. Er nestelte am Verschluss.
„Lass mal die Tasche.“
Er versuchte noch immer den Mechanismus zu betätigen.
„Nee fass die nicht an. Du machst allet kaputt.“
„Ja.“
„Ick muss det selber einpacken.“
„Ja.“
Die Frau zog die Tasche zu sich heran. „Det blöde Zeug krieg ick nich rein. Is viel zu viel.“ Sie öffnete die Tasche und holte einen Schuh heraus. Den legte sie in den Einkaufskorb. Dann nahm sie eine Plastiktüte mit Kirschen in die Hand und versuchte den Knoten zu öffnen. „Die haben die Tüte zu fest zujemacht. Da wird alles Matsch…Hach, die olle Tüte krieg ich nich auf.“
„Soll ich helfen?“ fragte der Mann.
„Nee.“
„Warum nich?“
„Du machst mir bloß allet durcheinander. Nachher jeht noch was kaputt.“
„Ja… War nich voll der Laden, nich?“
„Nee, war keener da“, sprach sie vor sich hin. „Die Kirschen müssen nach oben. Det Papier kommt an die Seite.“ Sie sortierte die Dinge im Einkaufswagen nach unerklärlichen Prinzipien. Anschließend steckte sie ein paar Sachen in einen bunten Perlonbeutel. Den stellte sie in den Wagen. Dann holte sie Brot und Bananen wieder heraus. „Die Kirschen müssen doch nach oben. Das sag ich doch von Anfang an.“
„Ja.“
Es dauerte lange, bis die Frau ihr Ordnungsprinzip verwirklicht hatte. „Setz deinen Deckel auf. Wir sind fertig. Der Bus wartet nicht.“
„Ja.“
„Komm hinter mir und beeil dich!“
„Ja.“
Der Mann stand auf, zog am Griff der Rolltasche. Als er feststellte, dass die Tasche noch falsch herum stand um sie ziehen zu können, versuchte er um sie herum zu laufen. Es war zu eng. Dann begann er sich mitsamt seiner Ladung zu drehen.
„Beeil dich und pass auf, der Wagen jeht sonst kaputt.“
„Ja.“
Langsam gingen die Beiden hinaus, zuerst die Frau, in der Hand den Beutel, dann folgte der Mann mit der roten Rolltasche.
„Jetzt hast du gerade in deine Zukunft geschaut. Und wie du siehst“, Kirsten nickte mit dem Kopf in die Richtung des alten Paares, „es ist möglich, dass man sich, an die sonderbarsten Dinge gewöhnen kann.“ Der Tisch neben ihnen war wieder leer. Christian atmete auf, seine Hemmungen waren verschwunden. Seine innere Anspannung hatte nachgelassen. „Ich weiß nicht, ob ich das will.“
„Wenn die Liebe groß ist, dann übertragen sich positive Gefühle bestimmt auf alles andere automatisch, sozusagen wie beim Campari.“
„Campari?“
„Na bitter ist doch, biologisch gesehen, ein eindeutiges Zeichen für giftig und gefährlich. Trotzdem liebe ich dieses Zeug und verfeinere mir alle möglichen Getränke damit. Aber vordergründig geht es dir wahrscheinlich nicht um deine Gewöhnung, glaub ich. Du solltest deine Freundin nicht hinhalten. Sie ist mit Recht sauer. Erst gibst du ihr zu verstehen: JA. Dann heißt es wieder: NEIN. Ich sag mal so, egal wie du es drehst, im Klartext heißt es für sie, sie genügt dir nicht.“
„Ich mag Annika wirklich sehr. Ich fühle mich ihr sehr nahe. Ständig muss ich an sie denken.
„Merkt sie das?“
Christian zuckte mit den Schultern. „Trotzdem bin ich mir nicht sicher, was ich will. Je mehr sie meine Nähe sucht, desto unsicherer werde ich.“
„Und genau das“ Kirsten schaute über ihre Kaffeetasse hinweg, aus der sie gerade getrunken hatte, in Christians Richtung, „strahlst du aus all deinen Poren. Da muss deine Freundin ja verzweifeln.“ Christian war ratlos. Er wollte von Kirsten „als Frau“ wissen, wie Annika reagieren könnte. Weiter und weiter fragte er, als wäre er viele Jahre mit Kirsten befreundet. „Ich sag mal so, das hängt von dir ab. Je ehrlicher du ihr beibringst was du willst, desto größer ist die Chance, dass sie dich nicht gleich ermordet.“
Obwohl er jetzt noch immer nicht genau wusste, was er Annika sagen würde, fühlte sich Christian von Kirsten ein wenig aufgebaut.